
Die Tierrechtsposition
Die Tiere, die von Menschen gegessen, in der Wissenschaft verwendet, gejagt, mit Fallen gefangen und auf vielerlei andere Weise ausgebeutet werden, haben ein eigenes Leben, das ihnen wichtig ist, unabhängig von ihrem Nutzen für uns. Sie existieren nicht nur in der Welt, sie sind sich der Welt bewusst. Was mit ihnen geschieht, ist für sie von Bedeutung. Jedes Tier hat ein Leben, das für das Tier selbst besser oder schlechter verlaufen kann.
Dieses Leben beinhaltet eine Vielzahl biologischer, individueller und sozialer Bedürfnisse. Wenn diese Bedürfnisse erfüllt werden, ist das eine Quelle der Freude; werden sie nicht erfüllt oder missbraucht, ist das eine Quelle des Leidens. Im Hinblick auf diese wesentlichen Eigenschaften sind die nichtmenschlichen Tiere, beispielsweise die Tiere in Laboren und landwirtschaftlichen Betrieben, den Menschen gleich. Deshalb muss die Ethik unseres Umgangs mit ihnen dieselben grundlegenden moralischen Prinzipien berücksichtigen wie die Ethik des Umgangs der Menschen untereinander.
Das Fundament, auf dem die menschliche Ethik ruht, ist der Eigenwert des Individuums: Der moralische Wert eines Menschen darf nicht daran gemessen werden, wie nützlich er für die Förderung der Interessen anderer ist. Menschen auf eine Weise zu behandeln, die ihren Eigenwert nicht respektiert, bedeutet, das grundlegendste aller Menschenrechte zu verletzen: das Recht jeder Person, mit Respekt behandelt zu werden.
Die Philosophie der Tierrechte verlangt lediglich, dass wir den Regeln der Logik folgen. Denn aus jedem Argument, das den Eigenwert der Menschen plausibel begründet, folgt, dass die anderen Tiere denselben Wert haben, und zwar in gleichem Maße. Und aus jedem Argument, das das Recht der Menschen, mit Respekt behandelt zu werden, erklärt, folgt, dass die anderen Tiere das gleiche Recht haben, und auch dieses in gleichem Maße.
Es stimmt, dass Frauen nicht existieren, um Männern zu dienen, Schwarze nicht, um Weißen zu dienen, die Armen nicht, um den Reichen zu dienen, und die Schwachen nicht, um den Starken zu dienen. Die Philosophie der Tierrechte akzeptiert diese Wahrheiten nicht nur, sondern fordert sie ein und rechtfertigt sie. Aber die Philosophie der Tierrechte geht weiter. Indem sie auf den Eigenwert anderer Tiere und deren Rechte besteht und diese rechtfertigt, liefert sie wissenschaftlich fundierte und moralisch objektive Gründe dafür, die Auffassung zu verwerfen, dass diese Tiere dazu da seien, uns zu dienen.
Hat man erst einmal anerkannt, dass nichtmenschliche Tiere nicht dazu da sind, uns zu dienen, ist es leicht zu verstehen, warum die Philosophie der Tierrechte kompromisslos gegenüber jeder einzelnen Ungerechtigkeit ist, die anderen Tieren angetan wird. Das Prinzip der Gerechtigkeit verlangt zum Beispiel nicht größere, sauberere Käfige für Tiere, die in der Wissenschaft verwendet werden, sondern leere Käfige; keine „traditionelle“ Tierhaltung in der Landwirtschaft, sondern ein vollständiges Ende jeglichen Handels mit dem Fleisch toter Tiere; nicht eine „humanere“ Jagd und keine „humaneren“ Fallen, sondern die völlige Beendigung dieser barbarischen Praktiken.
Denn wenn eine Ungerechtigkeit absolut ist, muss man ihr absolut entgegentreten. Die Gerechtigkeit verlangte keine „reformierte“ Sklaverei, keine „reformierte“ Kinderarbeit, keine „reformierte“ Unterdrückung der Frau. In jedem dieser Fälle war die Abschaffung die einzige moralisch angemessene Antwort. Die bloße Reform einer absoluten Ungerechtigkeit bedeutet, die Ungerechtigkeit zu verlängern.
Die Philosophie der Tierrechte verlangt die gleiche Antwort – Abschaffung – als Antwort auf die ungerechte Ausbeutung anderer Tiere. Es sind nicht die Details dieser ungerechten Ausbeutung, die geändert werden müssen. Es ist die ungerechte Ausbeutung an sich, die beendet werden muss – sei es in der Landwirtschaft, im Labor oder in der freien Natur, um nur einige Beispiele zu nennen. Mehr verlangt die Philosophie der Tierrechte nicht. Sie wird sich aber auch nicht mit weniger zufriedengeben.
Zehn Gründe für Tierrechte mit Erklärungen
1. Die Philosophie der Tierrechte ist rational.
Erklärung: Es ist nicht rational, willkürlich zu diskriminieren; und die Diskriminierung nichtmenschlicher Tiere ist willkürlich. Es ist falsch, schwächere Menschen, insbesondere solche, denen es an typischer menschlicher Intelligenz mangelt, als bloßes Mittel zum Zweck zu gebrauchen, etwa als „Werkzeuge“, „erneuerbare Ressourcen“, „Versuchsmodelle“ oder „Rohstoffe“. Es kann daher auch nicht richtig sein, andere Tiere wie „Werkzeuge“, „Tiermodelle“ und dergleichen zu behandeln, wenn ihr geistiges Innenleben ebenso komplex (oder gar komplexer) ist als das dieser Menschen. Anders darüber zu denken ist irrational.
„Ein Tier als physikalisch-chemisches System von extremer Komplexität zu beschreiben, ist zweifellos völlig richtig – nur übersieht man dabei das ‚Tiersein‘ des Tieres.“ – E. F. Schumacher
2. Die Philosophie der Tierrechte ist wissenschaftlich.
Erklärung: Die Philosophie der Tierrechte trägt dem aktuellen Stand der Wissenschaft im Allgemeinen und der Evolutionsbiologie im Besonderen Rechnung. Letztere lehrt, dass der Unterschied zwischen Menschen und vielen anderen Tieren, in Darwins Worten, „eine Verschiedenheit des Grads und nicht der Art“ ist. Abgesehen von der Frage, wo genau die Grenze gezogen wird, ist es offensichtlich, dass zum Beispiel die Tiere, die in Laboren verwendet, zu Nahrungszwecken gezüchtet und zum Vergnügen gejagt oder aus Profitgründen gefangen werden, in psychologischer Hinsicht unsere Verwandten sind. Das ist keine Fantasievorstellung, sondern eine wissenschaftlich bewiesene Tatsache.
„Zwischen dem Menschen und den höheren Säugetieren besteht kein fundamentaler Unterschied hinsichtlich ihrer geistigen Fähigkeiten.“ – Charles Darwin
3. Die Philosophie der Tierrechte ist frei von Vorurteilen.
Erklärung: Rassistinnen und Rassisten sind Menschen, die glauben, dass die Angehörigen ihrer „Rasse“ denen anderer „Rassen“ überlegen sind, nur weil erstere zu ihrer (der „überlegenen“) „Rasse“ gehören. Sexistinnen und Sexisten glauben, dass die Angehörigen ihres Geschlechts denen des anderen Geschlechts überlegen sind, nur weil erstere zu ihrem (dem „überlegenen“) Geschlecht gehören. Sowohl Rassismus als auch Sexismus sind paradigmatische Beispiele von nicht zu rechtfertigender Voreingenommenheit. Es gibt weder „überlegene“ noch „minderwertige“ Geschlechter oder „Rassen“ [im Übrigen gibt es wissenschaftlich betrachtet keine menschlichen Rassen; das Konzept der „Rasse“ ist ein Produkt von Rassismus]. [Scheinbare] Unterschiede in „Rasse“ und Geschlecht sind Unterschiede biologischer [und sozialer] und nicht moralischer Natur.
Das Gleiche gilt für den Speziesismus – die Ansicht, dass Angehörige der Spezies Homo sapiens Angehörigen aller anderen Spezies überlegen sind, nur weil Menschen ihrer eigenen (der „überlegenen“) Spezies angehören. Denn es gibt keine „überlegene“ Spezies. Anders darüber zu denken bedeutet, dass man nicht weniger voreingenommen ist als Menschen mit einem rassistischen oder sexistischen Weltbild.
„Wenn man das Töten rechtfertigen kann, um Fleisch zu essen, kann man auch die Bedingungen im Ghetto rechtfertigen. Ich kann keines von beiden rechtfertigen.“ – Dick Gregory
4. Die Philosophie der Tierrechte ist gerecht.
Erklärung: Gerechtigkeit ist das oberste Prinzip der Ethik. Wir dürfen auch dann kein Unrecht begehen oder zulassen, wenn etwas Gutes daraus entsteht; wir dürfen nicht die Rechte der Wenigen verletzen, damit die Vielen profitieren. Die Sklaverei ließ dies zu. Kinderarbeit ließ dies zu. Die meisten Beispiele sozialer Ungerechtigkeit lassen dies zu. Aber nicht die Philosophie der Tierrechte, deren oberstes Prinzip die Gerechtigkeit ist: Niemand hat das Recht, zu profitieren, indem er die Rechte anderer verletzt – ganz gleich, ob diese „Anderen“ Menschen oder andere Tiere sind.
„Die Gründe für ein gesetzliches Eingreifen zugunsten der Kinder gelten nicht weniger im Falle jener bedauernswerten Sklaven – der (anderen) Tiere.“ – John Stuart Mill
5. Die Philosophie der Tierrechte ist eine Philosophie des Mitgefühls.
Erklärung: Ein erfülltes menschliches Leben erfordert Empathie und Mitleid – mit einem Wort, Mitgefühl – für die Opfer von Ungerechtigkeit, egal ob es sich bei den Opfern um Menschen oder andere Tiere handelt. Die Philosophie der Tierrechte fordert die Tugend des Mitgefühls – und ihre Anerkennung fördert die Entfaltung dieser Tugend. Diese Philosophie macht, in Abraham Lincolns Worten, „den ganzen Menschen aus“.
„Gelebtes Mitgefühl könnte die großartige Chance sein, unseren überfüllten, verschmutzten Planeten zu schützen…“ – Victoria Moran
6. Die Philosophie der Tierrechte ist selbstlos.
Erklärung: Die Philosophie der Tierrechte verlangt ein Engagement im Dienste der Schwachen und Verwundbaren – derer, seien es nun Menschen oder andere Tiere, die nicht in der Lage sind, für sich selbst zu sprechen oder sich zu verteidigen, und die Schutz vor menschlicher Gier und Gleichgültigkeit benötigen. Diese Philosophie fordert ein solches Engagement nicht, weil es in unserem eigenen Interesse liegt, sondern weil es moralisch richtig ist. Die Philosophie der Tierrechte ruft daher zu selbstlosem Handeln auf und ihre Anerkennung fördert dieses Handeln.
„Wir brauchen eine Moralphilosophie, in der der Begriff der Liebe, der heutzutage so selten von Philosophen und Philosophinnen erwähnt wird, wieder zum Mittelpunkt gemacht werden kann.“ – Iris Murdoch
7. Die Philosophie der Tierrechte ist individuell erfüllend.
Erklärung: Alle großen ethischen Traditionen, sowohl weltliche als auch religiöse, betonen die Bedeutung von vier Dingen: Wissen, Gerechtigkeit, Mitgefühl und Selbstbestimmung. Die Philosophie der Tierrechte ist hier keine Ausnahme. Sie lehrt, dass unsere Entscheidungen auf Wissen beruhen, Mitgefühl und Gerechtigkeit zum Ausdruck bringen und frei getroffen werden sollten. Es ist nicht einfach, diese Tugenden zu erlangen oder die menschlichen Neigungen zu Gier und Gleichgültigkeit unter Kontrolle zu bringen. Jedoch ist ohne diese Tugenden ein erfülltes menschliches Leben unmöglich. Die Philosophie der Tierrechte fordert die individuelle Selbstverwirklichung und ihre Anerkennung fördert diese.
„Menschlichkeit ist kein lebloses äußerliches Gebot, sondern ein lebendiger Impuls von innen – nicht Selbstaufopferung, sondern Selbstverwirklichung.“ – Henry Salt
8. Die Philosophie der Tierrechte ist gesellschaftlich fortschrittlich.
Erklärung: Das größte Hindernis für den Fortschritt der menschlichen Gesellschaft ist die Ausbeutung anderer Tiere durch den Menschen. Das gilt für ungesunde Ernährungsweisen, für das gewohnheitsmäßige Vertrauen auf das „Ganztiermodell“ in der Wissenschaft und für die vielen anderen Formen der Tierausbeutung. Und ebenso gilt dies zum Beispiel für Bildung und Werbung, die dazu beitragen, die menschliche Psyche für die Forderungen der Vernunft und Unvoreingenommenheit, des Mitgefühls und der Gerechtigkeit abzustumpfen. Auf all diesen (und noch weiteren) Gebieten bleiben Nationen weiterhin zutiefst rückständig, weil sie es versäumen, den wahren Interessen ihrer Bürger zu dienen.
„Die Größe einer Nation und ihr moralischer Fortschritt lassen sich daran messen, wie ihre Tiere behandelt werden.“ – Mahatma Gandhi
9. Die Philosophie der Tierrechte ist ökologisch sinnvoll.
Erklärung: Die Hauptursache für Umweltzerstörung, zu der beispielsweise der Treibhauseffekt, die Wasserverschmutzung und der Verlust von Ackerland und Mutterboden gehören, kann auf die Ausbeutung von Tieren zurückgeführt werden. Das gleiche Muster ist bei allen Umweltproblemen zu beobachten, angefangen bei saurem Regen und der Entsorgung giftiger Abfälle im Meer bis hin zu Luftverschmutzung und der Zerstörung natürlicher Lebensräume. In all diesen Fällen gilt, dass ein Handeln zum Schutz der betroffenen Tiere (die schließlich die Ersten sind, die an diesen Umweltproblemen leiden und sterben) ein Handeln zum Schutz der Erde ist.
„Solange wir kein Gefühl der Verbundenheit zwischen unserer eigenen Spezies und jenen Mit‑Lebewesen entwickeln, die mit uns Sonne und Schatten des Lebens auf diesem gequälten Planeten teilen, gibt es keine Hoffnung für andere Spezies, keine Hoffnung für die Umwelt und keine Hoffnung für uns selbst.“ – Jon Wynne-Tyson
10. Die Philosophie der Tierrechte ist friedliebend.
Erklärung: Die grundlegende Forderung der Philosophie der Tierrechte besteht darin, Menschen und andere Tiere mit Respekt zu behandeln. Dies erfordert, dass wir niemandem Schaden zufügen, nur damit wir selbst oder andere davon profitieren können. Diese Philosophie lehnt daher militärische Aggression kategorisch ab. Es ist eine Philosophie des Friedens. Aber es ist eine Philosophie, die die Forderung nach Frieden über die Grenzen unserer Spezies hinaus ausdehnt. Denn jeden Tag wird ein Krieg gegen unzählige Millionen nichtmenschlicher Tiere geführt. Aufrichtig für den Frieden einzutreten bedeutet, sich entschieden gegen Speziesismus einzusetzen. Es ist Wunschdenken zu glauben, dass es „Frieden auf der Welt“ geben kann, wenn wir es nicht schaffen, unseren Umgang mit anderen Tieren friedlich zu gestalten.
„Sollte die Erde durch ein Wunder und all unsere Anstrengungen verschont bleiben, so wird allein Gerechtigkeit gegenüber allen Lebewesen die Menschheit retten.“ – Alice Walker
Zehn Gründe gegen Tierrechte mit Erwiderungen
1. Ihr setzt Tiere und Menschen gleich, obwohl sich Menschen und Tiere in Wirklichkeit stark unterscheiden.
Erwiderung: Wir sagen nicht, dass Menschen und andere Tiere in jeder Hinsicht gleich sind. Zum Beispiel behaupten wir nicht, dass Hunde und Katzen Infinitesimalrechnung beherrschen oder dass Schweine und Kühe Freude an Poesie haben. Was wir sagen, ist, dass viele andere Tiere – wie Menschen auch – Lebewesen mit einem geistigen Innenleben sind, die ein eigenes Erleben und Wohlbefinden haben. In diesem Sinne sind wir und sie gleich und daher, trotz unserer vielen Unterschiede, ebenbürtig.
„Alle Versuche, die Überlegenheit des Menschen zu beweisen, können diese unumstößliche Tatsache nicht widerlegen: Im Leiden sind uns die Tiere gleich.“ – Peter Singer
2. Ihr sagt, dass Menschen und Tiere die gleichen Rechte haben, was absurd ist. Hühner können kein Wahlrecht und Schweine kein Recht auf höhere Bildung haben.
Erwiderung: Wir sagen nicht, dass Menschen und andere Tiere immer die gleichen Rechte haben. Nicht einmal alle Menschen haben die gleichen Rechte. Zum Beispiel haben Menschen mit schweren geistigen Behinderungen kein Recht auf höhere Bildung. Was wir sagen, ist, dass diese und andere Menschen ein grundlegendes moralisches Recht mit anderen Tieren teilen – nämlich das Recht, mit Respekt behandelt zu werden.
„Es ist das Schicksal jeder Wahrheit, vor ihrer Anerkennung ein Gegenstand des Lächelns zu sein.“ – Albert Schweitzer
3. Wenn Tiere Rechte haben, dann hat auch Gemüse Rechte, was absurd ist.
Erwiderung: Viele Tiere sind wie wir: Sie haben ein eigenes psychisches Wohlbefinden. Wie wir haben daher auch diese Tiere das Recht, mit Respekt behandelt zu werden. Andererseits haben wir keinen Grund und schon gar keinen wissenschaftlichen Grund zur Annahme, dass zum Beispiel Karotten oder Tomaten über eine psychische Präsenz in der Welt verfügen. Wie allen anderen Gemüsesorten fehlen auch Karotten und Tomaten jegliche Art von Gehirn, zentralem Nervensystem oder Ähnlichem. Da es ihnen in dieser Hinsicht mangelt, gibt es keinen Grund, Gemüse als Lebewesen mit einem geistigen Innenleben zu betrachten, die beispielsweise Freude und Schmerz empfinden können. Aus diesen Gründen kann man Tieren rationalerweise Rechte zusprechen und sie Pflanzen verweigern.
„Das Plädoyer für Tierrechte beruht einzig auf der Empfindungsfähigkeit der Tiere.“ – Andrew Linzey
4. Wo zieht man die Grenze? Wenn Primaten und Nagetiere Rechte haben, dann haben auch Schnecken und Amöben Rechte, was absurd ist.
Erwiderung: Es ist oft nicht einfach, genau zu wissen, wo man „die Grenze ziehen“ soll. Wir können zum Beispiel nicht genau sagen, wie alt jemand sein muss, um alt zu sein, oder wie groß jemand sein muss, um groß zu sein. Wir können jedoch mit Gewissheit sagen, dass jemand, der 88 Jahre alt ist, alt ist, und dass eine Person, die zwei Meter groß ist, groß ist. Ebenso können wir nicht genau sagen, wo die Grenze zwischen Tieren mit einem geistigen Innenleben und solchen ohne verläuft. Aber wir können mit absoluter Gewissheit sagen, dass, wo immer man aus wissenschaftlichen Gründen eine Grenze zieht, Primaten und Nagetiere auf der einen Seite (der Seite mit geistigem Innenleben) sind, während sich Schnecken und Amöben auf der anderen Seite befinden – was allerdings nicht bedeutet, dass wir letztere gedankenlos vernichten dürfen.
„Im Verhältnis des Menschen zu den Tieren, zu den Blumen, zu allen Kreaturen der Schöpfung schlummert eine große Ethik, die bisher kaum erkannt worden ist.“ – Victor Hugo
5. Aber es gibt doch sicher einige Tiere, die zwar Schmerzen empfinden können, die aber keine einheitliche geistige Identität besitzen. Da diese Tiere kein Recht darauf haben, mit Respekt behandelt zu werden, legt die Philosophie der Tierrechte nahe, dass wir sie so behandeln können, wie wir wollen.
Erwiderung: Es stimmt, dass manche Tiere, wie Garnelen und Muscheln, möglicherweise Schmerzen empfinden können, ihnen aber die meisten anderen geistigen Fähigkeiten fehlen. Wenn das so ist, dann fehlen ihnen einige der Rechte, die andere Tiere besitzen. Es kann jedoch keine moralische Rechtfertigung dafür geben, irgendjemandem Schmerzen zuzufügen, wenn es nicht notwendig ist. Und da es nicht notwendig ist, dass Menschen Garnelen, Muscheln und ähnliche Tiere essen oder sie auf andere Weise nutzen, kann es keine moralische Rechtfertigung dafür geben, ihnen die Schmerzen zuzufügen, die mit einem solchen Konsum unweigerlich einhergehen.
„Die Frage ist nicht: ‚Können sie vernünftig denken?‘ noch: ‚Können sie sprechen?‘ sondern: ‚Können sie leiden?‘“ – Jeremy Bentham
6. Tiere respektieren unsere Rechte nicht. Daher sind auch Menschen nicht verpflichtet, ihre Rechte zu respektieren.
Erwiderung: Es gibt viele Situationen, in denen ein Individuum, das Rechte hat, nicht in der Lage ist, die Rechte anderer zu respektieren. Das gilt für Säuglinge, kleine Kinder sowie geistig beeinträchtigte oder verwirrte Menschen. In ihrem Fall sagen wir nicht, dass es völlig in Ordnung sei, sie respektlos zu behandeln, nur weil sie unsere Rechte nicht achten. Im Gegenteil erkennen wir an, dass wir die Pflicht haben, ihnen mit Respekt zu begegnen, auch wenn sie nicht verpflichtet sind, uns auf die gleiche Weise zu behandeln.
Was für Säuglinge, Kinder und die anderen genannten Menschen gilt, gilt ebenso für andere Tiere. Zugegeben, diese Tiere sind nicht verpflichtet, unsere Rechte zu respektieren. Aber das hebt unsere Pflicht, ihre Rechte zu achten, keineswegs auf und mindert sie auch nicht.
„Die Zeit wird kommen, in der Menschen wie ich die Ermordung von (anderen) Tieren mit gleichen Augen betrachten werden wie jetzt die Ermordung von Menschen.“ – Leonardo Da Vinci
7. Gott gab den Menschen die Herrschaft über andere Tiere. Deshalb können wir mit ihnen tun, was wir wollen, einschließlich sie zu essen.
Erwiderung: Nicht in allen Religionen wird gelehrt, dass Menschen die „Herrschaft“ über andere Tiere haben. Und selbst in jenen, die diese Ansicht vertreten, sollte der Begriff „Herrschaft“ als selbstlose Fürsorge verstanden werden, nicht als selbstsüchtige Machtausübung. Die Menschen sollen der gesamten Schöpfung mit derselben Liebe begegnen, mit der Gott sie geschaffen hat. Wenn wir die Tiere heute so lieben würden, wie die Menschen sie im Garten Eden geliebt haben, würden wir sie nicht essen. Diejenigen, die die Rechte der Tiere respektieren, haben die Reise zurück nach Eden angetreten – eine Reise zurück zu einer wahren Liebe zu Gottes Schöpfung.
„Dann sprach Gott: Hiermit übergebe ich euch alle Pflanzen auf der ganzen Erde, die Samen tragen, und alle Bäume mit samenhaltigen Früchten. Euch sollen sie zur Nahrung dienen.“ – Genesis 1:29
8. Nur Menschen haben unsterbliche Seelen. Das gibt uns das Recht, mit den anderen Tieren zu tun, was wir wollen.
Erwiderung: Viele Religionen lehren, dass alle Tiere, nicht nur Menschen, unsterbliche Seelen haben. Aber selbst wenn nur Menschen unsterblich wären, würde dies lediglich beweisen, dass wir ewig leben, während andere Tiere es nicht tun. Diese Tatsache (falls es überhaupt eine Tatsache ist) würde unsere Verpflichtung nicht abschwächen, sondern eher noch verstärken, dafür Sorge zu tragen, dass das Leben der anderen Tiere im Diesseits – das einzige Leben, das sie haben – so lang und so gut wie möglich ist.
„Es gibt keine Religion ohne Liebe; und die Menschen mögen noch so viel über ihre Religion reden, aber wenn sie ihnen nicht beibringt, gut und freundlich zu anderen Tieren sowie zu Menschen zu sein, ist das alles Heuchelei.“ – Anna Sewell
9. Wenn wir die Rechte der Tiere respektieren und Tiere nicht essen oder auf andere Weise ausbeuten, was sollen wir dann mit all diesen Tieren machen? In sehr kurzer Zeit werden sie auf unseren Straßen und in unseren Wohnungen herumlaufen.
Erwiderung: Allein in den Vereinigten Staaten werden jedes Jahr zwischen drei und fünf Milliarden Tiere zur Nahrungsmittelerzeugung gezüchtet und geschlachtet [diese Zahl stieg 2023 auf mehr als neun Milliarden Landtiere; 2024 waren es in Deutschland 45 Millionen Schweine, drei Millionen Rinder, über 650 Millionen Hühner und viele Millionen andere Tiere; weltweit werden pro Jahr mehr als 85 Milliarden Landtiere für ihr Fleisch getötet, das sind mehr als 2.500 pro Sekunde]. Der Grund für diese erstaunlich hohe Zahl ist einfach: Es gibt Konsumentinnen und Konsumenten, die sehr große Mengen an Tierfleisch essen. Das Angebot an Tieren richtet sich nach der Nachfrage der Käuferinnen und Käufer.
Wenn sich jedoch die Philosophie der Tierrechte durchsetzt und die Menschen sich auf eine vegetarische Ernährung umstellen, brauchen wir nicht zu befürchten, dass Milliarden von Kühen und Schweinen mitten in unseren Städten oder in unseren Wohnzimmern weiden. Sobald der finanzielle Anreiz für die Aufzucht von Milliarden dieser Tiere entfällt, wird es einfach keine Milliarden dieser Tiere mehr geben. Das gleiche Argument gilt auch in anderen Bereichen – zum Beispiel bei Tieren, die für Forschungszwecke gezüchtet werden. Wenn sich die Philosophie der Tierrechte durchsetzt und die Nutzung dieser Tiere eingestellt wird, dann entfällt auch der finanzielle Anreiz, Millionen von ihnen zu züchten.
„Die schlimmste Sünde gegenüber unseren Mitgeschöpfen ist nicht, sie zu hassen, sondern ihnen gegenüber gleichgültig zu sein. Das ist der Kern der Unmenschlichkeit.“ – George Bernard Shaw
10. Selbst wenn andere Tiere moralische Rechte haben und geschützt werden sollten, gibt es wichtigere Dinge, die unsere Aufmerksamkeit erfordern –Welthunger und Kindesmisshandlung zum Beispiel, Drogen, Gewalt gegen Frauen und Obdachlosigkeit. Nachdem wir uns um diese Probleme gekümmert haben, können wir uns um Tierrechte Gedanken machen.
Erwiderung: Die Tierrechtsbewegung ist als der Menschenrechtsbewegung zugehörig zu verstehen, nicht als etwas von ihr Getrenntes. Dieselbe Philosophie, die Rechte für nichtmenschliche Tiere fordert und diese Rechte verteidigt, fordert und verteidigt auch Menschenrechte.
Auf praktischer Ebene steht man außerdem nicht vor der Wahl, entweder Menschen oder anderen Tieren zu helfen. Man kann beides tun. Menschen müssen zum Beispiel keine Tiere essen, um Obdachlosen zu helfen, genauso wenig wie sie Kosmetika verwenden müssen, die an Tieren getestet wurden, um Kindern zu helfen. Tatsächlich sind Menschen, die die Rechte nichtmenschlicher Tiere respektieren, indem sie sie nicht essen, gesünder – und können so anderen Menschen sogar noch mehr helfen.
„Ich bin für die Rechte der Tiere genauso wie für die Menschenrechte. Denn das erst macht den ganzen Menschen aus.“ – Abraham Lincoln
Übersetzung: Dr. Rainer Ebert
Dieser Text wurde ursprünglich von der Culture & Animals Foundation veröffentlicht und verteilt. Die vorliegende Übersetzung wurde mit Genehmigung der Culture & Animals Foundation erstellt. Erfahre mehr über die Arbeit der Culture & Animals Foundation unter cultureandanimals.org.
Kommentare und Ergänzungen in eckigen Klammern wurden vom Übersetzer eingefügt.
Die im Original verwendeten Zitate und Zuschreibungen wurden übernommen. Bei einzelnen Zitaten ist die Autorschaft nicht eindeutig gesichert.
Dr. Christian Koeder und Alexandra Breunig sei herzlich für die sorgfältige Korrekturlektüre der Übersetzung und die vielen wertvollen Anmerkungen und Verbesserungsvorschläge gedankt. Die Verantwortung für etwaige verbleibende Ungenauigkeiten oder Fehler liegt ausschließlich beim Übersetzer.
Videoaufzeichnungen von Vorträgen von Tom Regan
An der Royal Institution of Great Britain im Jahr 1989:
An der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg im Jahr 2006:
Weiterführende Literatur
Die folgende Liste mit weiterführender Literatur erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Fett gedruckte Titel eignen sich besonders für Leserinnen und Leser, die sich bisher noch wenig mit Tierethik beschäftigt haben.
Deutsch
- Carol J. Adams, Zum Verzehr bestimmt: Eine feministisch-vegetarische Theorie (Verlag Guthmann-Peterson, 2002), ISBN: 978-3900782146
- Paola Cavalieri, Die Frage nach den Tieren: Für eine erweiterte Theorie der Menschenrechte (Harald Fischer Verlag, 2002), ISBN: 978-3891314074
- J. M. Coetzee, Das Leben der Tiere (S. Fischer, 2000), ISBN: 978-3100108173
- Sue Donaldson & Will Kymlicka, Zoopolis: Eine politische Theorie der Tierrechte (Suhrkamp, 2013), ISBN: 978-3518300114
- Arianna Ferrari & Klaus Petrus (Hrsg.), Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen (Transcript, 2015), ISBN: 978-3837622324
- Gary L. Francione & Anna Charlton, Essen als Engagement: Über die Moral des Tierkonsums (Exempla Press, 2015), ISBN: 978-0996719209
- Herwig Grimm & Markus Wild, Tierethik zur Einführung (Junius Verlag, 2020), ISBN: 978-3885067481
- Interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft Tierethik Heidelberg (Hrsg.), Tierrechte: Eine interdisziplinäre Herausforderung (Harald Fischer Verlag, 2007), ISBN: 978-3891314173
- Melanie Joy, Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen: Eine Einführung in den Karnismus (compassion media, 2013), ISBN: 978-3981462173
- Christian Koeder, Veganismus: Für die Befreiung der Tiere (CreateSpace Independent Publishing Platform, 2014), ISBN: 978-1496089665
- Klaus Petrus, Tierrechtsbewegung: Geschichte, Theorie, Aktivismus (Unrast Verlag, 2013), ISBN: 978-3897711181
- Friederike Schmitz, Tierethik: Grundlagentexte (Suhrkamp Verlag, 2014), ISBN: 978-3518296820
- Friederike Schmitz, Tierethik: kurz + verständlich (compassion media, 2025), ISBN: 978-3981642551
- Hilal Sezgin, Artgerecht ist nur die Freiheit: Eine Ethik für Tiere oder Warum wir umdenken müssen (C. H. Beck, 2014), ISBN: 978-3406659041
- Peter Singer, Animal Liberation: Die Befreiung der Tiere (Harald Fischer, 2015), ISBN: 978-3891315323
- Markus Wild, Tierphilosophie zur Einführung (Junius Verlag, 2019), ISBN: 978-3885066514
- Ursula Wolf, Texte zur Tierethik (Reclam, 2008), ISBN: 978-3150185353
Englisch
- Carol J. Adams, The Sexual Politics of Meat: A Feminist-Vegan Critical Theory (Bloomsbury Academic, 2024), ISBN: 979-8765123669
- Paola Cavalieri, The Death of the Animal: A Dialogue (Columbia University Press, 2009), ISBN: 978-0231145527
- J. M. Coetzee, The Lives of Animals (Princeton University Press, 2016), ISBN: 978-0691173900
- David DeGrazia, Animal Rights: A Very Short Introduction (Oxford University Press, 2002), ISBN: 978-0192853608
- Sue Donaldson & Will Kymlicka, Zoopolis: A Political Theory of Animal Rights (Oxford: Oxford University Press, 2011), ISBN: 978-0199599660
- Rainer Ebert, „Being a World Unto One’s Self: A Phenomenal Consciousness Account of Full and Equal Moral Status,“ Zeitschrift für Ethik und Moralphilosophie 5 (2022), pp. 179–202
- Gary L. Francione, Introduction to Animal Rights: Your Child or the Dog? (Temple University Press, 2000), ISBN: 978-1566396929
- Lori Gruen, Ethics and Animals: An Introduction (Cambridge University Press, 2021), ISBN: 978-1108986571
- Oscar Horta, Making a Stand for Animals (Routledge, 2022), ISBN: 978-1032259758
- Melanie Joy, Why We Love Dogs, Eat Pigs, and Wear Cows: An Introduction to Carnism (Red Wheel, 2020), ISBN: 978-1590035016
- Andrew Linzey, Animal Theology (University of Illinois Press, 1995), ISBN: 978-0252064678
- Andrew Linzey & Clair Linzey (Hrsg.), Animal Theologians (Oxford University Press, 2023), ISBN: 978-0197655573
- Nathan Nobis, Animals & Ethics 101: Thinking Critically About Animal Rights (Open Philosophy Press, 2016), ISBN: 978-0692471289, available for free at animalethics101.com
- Martha C. Nussbaum, Justice for Animals: Our Collective Responsibility (Simon & Schuster, 2024), ISBN: 978-1982102517
- Evelyn B. Pluhar, Beyond Prejudice: The Moral Significance of Human and Nonhuman Animals (Duke University Press, 1995), ISBN: 978-0822316480
- Tom Regan, The Case for Animal Rights (University of California Press, 2004), ISBN: 978-0520243866
- Tom Regan, Empty Cages: Facing the Challenge of Animal Rights (Rowman & Littlefield, 2004), ISBN: 978-0742549937
- Mark Rowlands, Animals Like Us (Verso Books, 2002), ISBN: 978-1859843864
- Mark Rowlands, Animal Rights (MIT Press Essential Knowledge, 2025), ISBN: 978-0262549400
- Jeff Sebo, The Moral Circle: Who Matters, What Matters, and Why (W. W. Norton & Company, 2025), ISBN: 978-1324064800
- Peter Singer, Animal Liberation Now: The Definitive Classic Renewed (Harper Perennial, 2023), ISBN: 978-0063226708
- Cass R. Sunstein & Martha C. Nussbaum (Hrsg.), Animal Rights: Current Debates and New Directions (Oxford University Press, 2004), ISBN: 978-0195305104
- Steven M. Wise, Rattling The Cage: Toward Legal Rights For Animals (Perseus Publishing, 2000), ISBN: 978-0738204376
- Steven M. Wise, Drawing the Line: Science and the Case for Animal Rights (Basic Books, 2003), ISBN: 978-0738208107
Biografische Anmerkung

Dr. Tom Regan war ein warmherziger und großzügiger Mensch und ein Freund für viele. Als Philosoph von Beruf und Berufung verband er wissenschaftliche Strenge und akribische Liebe zum Detail mit der ansteckenden Leidenschaft moralischer Überzeugung. Sein Leben und Werk wurden zum Kompass, an dem sich zahlreiche Menschen orientierten. Sie werden auch kommende Generationen inspirieren. Als junger Mann veränderte sich sein eigenes Leben durch eine literarische Begegnung mit Mahatma Gandhi, die den Beginn seiner Reise vom Fleischesser zum Veganer markierte – und schließlich zu einem der einflussreichsten Verfechter nichtmenschlicher Tiere seiner Generation.
Tom Regan wurde am 28. November 1938 in Pittsburgh, Pennsylvania, geboren und unterrichtete 34 Jahre lang Philosophie an der North Carolina State University. Er schrieb mehr als zwanzig Bücher – darunter The Case for Animal Rights (1983) – und Hunderte von wissenschaftlichen Artikeln, in denen er die im vorliegenden Text skizzierten Ideen detailliert und mit viel Geschick ausarbeitete. Seine Autobiografie in zwei Teilen, The Bird in the Cage: A Glimpse of My Life, wurde 1986 im zweiten Band von Between the Species veröffentlicht. In unzähligen Vorträgen auf der ganzen Welt half er dem Publikum, Kühe, Schweine, Hühner, Schafe und Ziegen als die einzigartigen Individuen zu sehen, die sie sind – nicht weniger wertvoll als du und ich. Er starb am 17. Februar 2017 in Raleigh, North Carolina.